(i) Kontrolle der raum-zeitlichen Dynamik in einem generischen Reaktions-Diffusions-System

Bereits im ersten Antragszeitraum hatten wir ein generisches Reaktions-Diffusions-Modell vom Aktivator-Inhibitor-Typ entwickelt [34], welches ursprünglich für den senkrechten Ladungstransport durch geschichtete Halbleiterstrukturen wie die HHED abgeleitet wurde und welches typisch ist für eine große Klasse von räumlich ausgedehnten strukturbildenden Systemen in Physik, Chemie und Biologie. Eine globale Kopplung wird durch den angeschlossenen Laststromkreis vermittelt. Dieses Modell zeigt sowohl Frontdynamik [6] als auch komplexe und chaotische raum-zeitliche Szenarien [7]. Im Berichtszeitraum haben wir neue überraschende Ergebnisse und wesentliche Fortschritte in der systematischen Untersuchung der Chaoskontrolle raum-zeitlicher Muster durch zeitverzögerte Rückkopplungsverfahren (Pyragas-Kontrolle [1,40]) erzielt.

In dimensionslosen Einheiten haben die Modellgleichungen für das generische Modell die Form eines Reaktions-Diffusions-Systems vom Aktivator-Inhibitor-Typ mit globaler Kopplung. Wir haben dieses Modell erweitert durch Kontrollkräfte $ F_a$ und $ F_u$ [15]:

$\displaystyle \partial_t a(\vec{x},t)$ $\displaystyle =$ $\displaystyle \frac{u-a}{(u-a)^2 + 1} - T a +
\Delta a - K F_a(\vec{x},t),$ (1)
$\displaystyle \partial_t u(t)$ $\displaystyle =$ $\displaystyle \alpha\left[j_0 - (u-\langle a\rangle)\right] -K F_u(t).$ (2)

Hierbei ist $ a$ die ortsabhängige Aktivatorvariable (Elektronendichteverteilung in der Schicht senkrecht zur Transportrichtung) und $ u$ die Inhibitorvariable (Spannung am Bauelement). Die erste Gleichung stellt die Kontinuitätsgleichung für Elektronen, welche durch die Schicht fließen, dar; die zweite Gleichung ist die Kirchhoff-Gleichung für den Gesamtstrom $ \sim j_0$ , der über den Spannungsabfall an einem Lastwiderstand eine globale Kopplung bewirkt. Es sind $ \alpha$ , $ j_0$ und $ T$ Systemparameter, welche die Zeitskala, den externen Kontrollparameter bzw. einen Parameter, der den Bistabilitätsbereich bestimmt, darstellen. Die räumlich gemittelte Elektronendichteverteilung $ \langle a \rangle$ geht in den Strom ein und repräsentiert die globale Kopplung. Die Ortsvariable in der Schichtebene $ \vec{x}$ kann je nach Problemstellung ein- oder zweidimensional sein. Wir betrachten zunächst den eindimensionalen Fall. Die Kontrollkräfte $ F_a$ und $ F_u$ , welche mit einer Kontrollstärke $ K$ multipliziert werden, können allgemein gewählt werden.
Abbildung: Kontrollgebiete der zeitverzögerten Rückkopplung in der $ K-R$ Ebene für das generische HHED Modell mit (a) diagonaler und (b) lokaler Kontrolle ohne Inhibitorkontrolle. Hierbei bedeuten $ \star $ erfolgreiche und $ \cdot $ nicht erfolgreiche Kontrolle. Die durchgezogenen Linien bezeichnen die analytische Lösung für die Ränder der Kontrollgebietes nach (5). Nach [15]
\includegraphics[width=\columnwidth]{HHED_KR}

Es sei zunächst $ K=0$ (keine Kontrolle). Komplexes und chaotisches Verhalten ist im allgemeinen in einem Parameterbereich zu erwarten, in dem gleichzeitig die Bedingungen für eine räumliche (Sromfilament) und eine zeitliche (Hopf-Bifurkation) Instabilität erfüllt sind, wie wir im räumlich eindimensionalen Fall gezeigt haben [7]. Daraus ergab sich die Frage, unter welchen Umständen analoges Verhalten in räumlich zweidimensionalen Systemen möglich ist. In Zusammenarbeit mit dem Gastwissenschaftler W. Just (London) sowie dem Teilprojekt B6 konnten wir mit Hilfe einer Amplitudenentwicklung der superkritischen Kodimension-Zwei-Bifurkation zeigen, daß eine Koexistenz von Turing- und Hopfinstabilität in zwei Dimensionen in einem (durch eine zweite diffusive Kopplung) lokal gekoppelten System im allgemeinen nicht zu erwarten ist, es sei denn die Systemgröße in einer der beiden Richungen ist so klein, daß sich eine quasi-eindimensionale Dynamik ergibt [10].

Die generische Struktur der Gleichungen (1) und (2) liegt auch anderen Teilprojekten zu Grunde. Es ergab sich eine interessante Kooperation mit dem Teilprojekt B4, in dem ein elektrochemisches Modell zur Musterbildung auf Elektrodenoberflächen untersucht wurde: Ein detaillierter Vergleich mit unserem global gekoppelten Reaktions-Diffusions-Modell förderte erstaunliche Parallelen in den Szenarien der komplexen Raum-Zeit-Dynamik zu Tage [11]. Erweitert man das global gekoppelte zweikomponentige Reaktions-Diffusions-System durch eine dritte diffundierende Komponente, so können damit außer stationären, atmenden oder spikenden Stromfilamenten auch laufende Filamente (bzw. Domänen) beschrieben werden [27].

Wir betrachten nun den Fall $ K\neq 0$ in einer Raumdimension. Dabei seien die Systemparameter so gewählt, dass sich für $ K=0$ chaotisches raum-zeitliches Spiking ergibt. Unser Ziel ist die Stabilisierung eines instabilen periodischen raum-zeitlichen Orbits, welcher durch die Periode $ \tau$ und den Floquetexponenten $ \lambda$ charakterisiert ist. Weiterhin sollen bei erfolgreicher Kontrolle die Kontrollkräfte $ F_a$ und $ F_u$ verschwindend klein werden (nichtinvasive Kontrolle).

Dies wird im allgemeinen durch verschiedene Varianten der zeitverzögerten Autosynchronisation (Pyragas-Kontrolle) erreicht [1,2,3]. Hier war unser Ziel, diese Verfahren auf Raum-Zeit-Muster zu erweitern. Insbesondere verwendeten wir als Ausgangspunkt eine lokale Rückkopplung in der Form $ F_a=F_{\text{loc}}$ , $ F_u=F_{\text{vf}}$ (diagonale Kopplung), mit

$\displaystyle F_{\text{loc}}(x,t)$ $\displaystyle =$ $\displaystyle a(x,t)- a(x,t-\tau) + R F_{\text{loc}}(x,t-\tau),$ (3)
$\displaystyle F_{\text{vf}}(t)$ $\displaystyle =$ $\displaystyle u(t)-u(t-\tau) + R F_{\text{vf}}(t-\tau),$ (4)

wobei $ R$ ein Gedächtnisparameter ist. Für die diagonale Kontrolle genügt der Floquetexponent $ \Lambda $ des kontrollierten Orbits der exakten impliziten Gleichung [4],

$\displaystyle \Lambda+K \frac{1-e^{-\Lambda \tau}}{1-Re^{-\Lambda \tau}} = \lambda.$ (5)

Wie in Abb. 1(a) gezeigt, lässt sich das daraus resultierende Kontrollgebiet in der K-R Ebene numerisch mit hoher Genauigkeit für das generische Modell reproduzieren [15]. Die beiden auftretenden Gebietsgrenzen werden durch eine Flip-Bifurkation für kleine $ K$ Werte, sowie durch eine Hopf-Bifurkation für große $ K$ Werte hervorgerufen. Es ist nun interessant, zu untersuchen, wie sich das Kontrollgebiet durch das Verwenden anderer Kontrollschemata verformt. Ein Beispiel ist die lokale Kontrolle ohne Inhibitorkontrolle, welche sich durch $ F_u=0$ , $ F_a=F_{\text{loc}}$ ergibt. In Abb. 1(b) ist zu erkennen, dass sich dadurch neue Kontrollgrenzen ergeben. Ein systematischer Vergleich verschiedener lokaler und globaler Kontrollschemata wurde in Zusammenarbeit mit W. Just (London) und J. Socolar (Duke University, USA) durchgeführt. Dabei konnten wir z.B. durch Berechnung der Floquet-Spektren zeigen, dass in Abb. 1(b) das Kontrollgebiet für große $ R$ und $ K$ von einer subkritischen Flip-Bifurkation begrenzt wird, und dass der Kontrollbereich bei globaler Kontrolle durch Weglassen der Inhibitorkontrolle sogar vergrößert werden kann.

Abbildung: (a) Floquet-Linkseigenmode $ \phi _u(t)$ und $ \phi _a(x,t)$ für den größten Floquetexponenten eines periodischen Orbits, sowie die entsprechende Floquet-Rechtseigenmode (b) $ \psi _u(t)$ und $ \psi _a(x,t)$ . Nach [14]
\includegraphics[width=0.8\columnwidth]{bab02_fig_2}

Abbildung: Vergleich der Floquet-Eigenmodenkontrolle (durchgezogene Linie) und der diagonalen Kontrolle (gestrichelte Linie). Geplottet ist das raum-zeitliche Mittel $ \epsilon = \langle \vert a(x,t) - a(x,t-\tau)\vert
+\vert u(t) - u(t-\tau)\vert\rangle_{x,t}$ gegen die Kontrollamplitude $ K$ . Nach [14]
\includegraphics[width=0.8\columnwidth]{bab02_fig_3}

Für die Anwendung sind insbesondere Kontrollschemata interessant, welche mit einem möglichst kleinen Verstärkungsfaktor $ K$ auskommen. In dieser Hinsicht erwies sich ein neues Kontrollschema, welches wir in Zusammenarbeit mit W. Just entwickelten [14], als überraschend effizient. Für dieses Kontrollschema werden zunächst die Floquet-Links­eigenmode $ \phi_{u/a}$ und die mit dem adjungierten Problem assoziierte Floquet-Rechts­eigen­mode $ \psi_{u/a}$ für den größten Floquetexponenten des zu stabilisierenden Orbits berechnet. Ein konkretes Beispiel für solche Moden ist in Abb. 2 dargestellt. Die Kontrollkräfte werden dann wie folgt konstruiert:

$\displaystyle F_u(t)$ $\displaystyle =$ $\displaystyle \psi_u(t) s(t), \quad\quad F_a(x,t) = \psi_a(x,t) s(t),$ (6)
mit$\displaystyle \quad s(t)$ $\displaystyle =$ $\displaystyle \int_0^L
\phi_a(x',t)\left[a(x',t)-a(x',t-\tau)\right]$   d$\displaystyle x' +
\phi_u(t)\left[u(t) -u(t-\tau) \right]$ (7)

Bei der Anwendung dieser Kontrollkräfte auf das generische Modell entdeckten wir, dass die Kontrolle auch für extrem kleine $ K$ -Werte noch funktioniert, d.h. die Kontrollschwelle wird um sechs Größenordnungen gesenkt, wie in Abb. 3 durch den Vergleich mit der diagonalen Kontrolle demonstriert wird. Bei der näheren Untersuchung dieses Phänomens stellten wir fest, dass eine Phasenverschiebung $ \delta$ des kontrollierten Orbits gegenüber der Phase der Floquetmoden eine wichtige Rolle spielt, welche wir zunächst durch störungstheoretische Überlegungen behandelten [14]. Wir wandten diese neuartige Floquetmodenkontrolle auch auf das Rössler-Modell an [24]. In diesem niederdimensionalen System gelang es uns, die Abhängigkeit der minimalen Kontrollstärke von der Phasenverschiebung $ \delta$ über den störungstheoretischen Ansatz hinaus zu analysieren.

Durch eine geeignete Erweiterung der Floquetmodenkontrolle auf zwei instabile Moden gelang es uns erstmals, lokalisierte raum-zeitliche Muster (Spikes) gezielt an einer gewählten Position des Systems zu platzieren [14]. Während die stabilen oder instabilen Raum-Zeit-Spikes in einem global gekoppelten Reaktions-Diffusions-Systems mit Neumann-Randbedingungen normalerweise immer am Rand des Systems gepinnt sind, konnten wir mit der erweiterten Floquetmodenkontrolle den Spike bei verschwindender Kontrollkraft in der Mitte des Systems stabilisieren. Hierbei handelt es sich um die Kontrolle eines instabilen Orbits auf dem Repellor.

AG Schöll
Institut für theoretische Physik, TU Berlin.