(iii) Musterbildung und Selektion in Halbleiterübergittern

Abbildung: Energieschema eines Übergitters
\includegraphics[width=0.7\textwidth]{SL_scheme}

Halbleiterübergitter entstehen durch eine abwechselnde Schichtenfolge von zwei verschiedenen Materialien. Bei ausreichender Barrierendicke können die Elektronen als weitgehend in den Quantentöpfen lokalisiert angesehen werden. Das resultierende Energie­schema ist in Abb. 9 dargestellt. Weiterhin sei angenommen, dass sich die Elektronen eines Topfes in einem lokalen Gleichgewicht befinden und somit mehrheitlich dessen niedrigstes Energieniveau bevölkern. Die Elektronen können aus dem Grundzustand eines Topfes in einen der freien Zustände des nächsten Topfes tunneln, ein eventueller Differenzbetrag in der Energie der Zustände kann dabei durch das zwischen den Töpfen herrschende elektrische Feld ausgeglichen werden. Die Stromdichte $ j_{m\to m+1}(F_m, n_m, n_{m+1})$ vom Topf $ m$ nach $ m+1$ ist folglich eine nichtlineare Funktion des Feldes $ F_m$ zwischen den Töpfen, sowie der Elektronendichten $ n_m$ und $ n_{m+1}$ in den beteiligten Töpfen. Für die konkrete mikroskopische Berechnung von $ j_{m \to m+1}$ benutzen wir das in unserer Arbeitsgruppe entwickelte sequenzielle Tunnelmodell, s. den Übersichtsartikel von A. Wacker [17]. Für die Kontaktströme am Emitter $ j_{0\to 1}$ und am Kollektor $ j_{N\to N+1}$ nehmen wir der Einfachheit halber Ohm'sche Randbedingungen an, welche durch eine Kontaktleitfähigkeit $ \sigma$ charakterisiert ist. $ N$ ist hierbei die Anzahl der Quantentöpfe des Übergitters.

Damit ergeben sich folgende Bewegungsgleichungen für die Elektronendichten:

$\displaystyle e \dot{n}_m$ $\displaystyle =$ $\displaystyle j_{m-1 \to m} - j_{m\to m+1}$   für $\displaystyle m
= 1, \ldots N,$ (10)
$\displaystyle \epsilon_r \epsilon_0 (F_m - F_{m-1})$ $\displaystyle =$ $\displaystyle e(n_m -N_D)$   für $\displaystyle m
= 1, \ldots N,$ (11)
$\displaystyle U_0$ $\displaystyle =$ $\displaystyle - \sum_{m=0}^N F_m d,$ (12)

mit der Elektronenladung $ e<0$ , der relativen und absoluten Suszeptibilität $ \epsilon_r$ bzw. $ \epsilon_0$ , der Dotierung $ N_D$ , der äußeren Spannung $ U_0$ und der Periode des Übergitters $ d$ . Gl. (12) beschreibt eine globale Einschränkung durch die Gesamtspannung. Der Gesamtstrom durch das Übergitter ist durch $ j = \sum_m j_{m\to m+1}
/(N+1)$ gegeben [34].
Abbildung: Chaotisches Szenario der Dynamik der Elektronendichte in einem Übergitter für verschiedene Spannungen (Raum-Zeit-Plots). Helle Regionen bedeuten eine Elektronenanreicherung, dunkle Regionen eine Elektronenverarmung. Nach [18].
\includegraphics[width=0.5\textwidth]{ama02a_fig4}

Abbildung: Bifurkationsdiagramm der Kollisionspositionen (Index des Quantentopfs) von Anreicherungs- und Verarmungsfronten für verschiedene Spannungswerte $ U$ . Nach [18].
\includegraphics[width=0.75\textwidth]{ama02a_fig2a}

Je nach Wahl der physikalischen Parameter (insbesondere von $ \sigma$ und $ N_D$ ) ergibt das Gleichungssystem (10), (11) und (12) bei konstantem $ U_0$ entweder stationäre oder oszillierende räumlich-inhomogene Lösungen (Felddomänen, begrenzt durch Elektronenanreicherungs- bzw. Verarmungsschichten). Im stationären Fall ist das System im allgemeinen multistabil, d.h. zu einem Spannungswert gibt es mehrere stabile Zweige, welche sich aber zum Beispiel im resultierenden Strom unterscheiden. In Zusammenarbeit mit L. Bonilla (Madrid) behandelten wir zunächst die Frage, welcher der möglichen Zweige nach einem abruptem oder kontinuierlichen Wechsel der äußeren Spannung vom System selektiert wird [9,36]. Hierbei stellten wir fest, dass der Endzustand des Systems z.B. sehr empfindlich von dem Spannungsunterschied von Ausgangs- und Endspannung abhängen kann. Dies Verhalten konnten wir zur Selektion verschiedener Arbeitspunkte verwenden. Ein Großteil der teilweise überraschenden Effekte ließ sich darauf zurückzuführen, dass am Emitterkontakt Paare von Anreicherungs- und Verarmungsfronten der Elektronen (Dipole) erzeugt werden. Unsere theoretischen Voraussagen zur Schaltdynamik zwischen den multistabilen Zuständen wurden später durch Experimente am Paul-Drude-Institut Berlin in beeindruckender Weise quantitativ bestätigt [5].

Durch eine nähere Untersuchung der Fronterzeugungsprozesse am Emitter, sowie der Bewegung der Fronten innerhalb des Bauteils, gelang es uns, komplexe Selbstoszillationen wie Tripolmoden [19] zu erzeugen. Es zeigte sich, dass die Fronterzeugung am Emitter im wesentlich von der Kontaktleitfähigkeit $ \sigma$ und dem Gesamtstrom $ j$ abhängt. Insbesondere konnten wir auch erstmals chaotische Frontdynamik in einem ungetriebenen Übergitter (d.h. bei konstanter Spannung $ U_0$ ) nachweisen [18]. Ein typisches Bifurkationsszenario ist in den Elektronendichteplots in Abb. 10 dargestellt. Wir sehen, dass mit wachsender Spannung das Übergitter sowohl periodisches als auch chaotisches Verhalten zeigt. Das volle Bifurkationsdiagramm zeigt neben einer alternierenden Folge von chaotischen und periodischen Regionen auch eine markante Spinnennetzstruktur, dessen Zentrum bei $ U_0=0.9V$ liegt.

Weiterhin gingen wir der Frage nach, wie sich die Frontdynamik in einem Übergitter auf elementare Weise verstehen lässt. Hierbei fanden wir in Zusammenarbeit mit der Gruppe von U. Parlitz (Göttingen) eine überraschende Analogie zu einem Tankmodell, welches in ganz anderem Zusammenhang zur Beschreibung der Vorratshaltung in Fabriken verwendet wird [28]. Hierbei werden eine vorgegebene Anzahl von Töpfen abwechselnd über eine Zuleitung mit Flüssigkeit gefüllt, während aus allen Tanks gleichzeitig Flüssigkeit abfließt. Die Zuleitung wechselt dann zu einem neuen Tank, sobald dieser leer ist, und zudem der aktuell befüllte Tank eine gewisse Mindestfüllhöhe $ p_h$ erreicht hat. Das Verhältnis der Zufluss- und Abflussraten ist dabei so gewählt, dass die Gesamtmenge $ L_h$ der Flüssigkeit konstant bleibt. Die Füllhöhe in den Tanks entspricht im Übergittersystem der Länge der Hochfeldregion zwischen den Verarmungs- und Anreicherungsfronten, bzw. zwischen erster Verarmungsfront und Emitter für den aktuell befüllten Tank. Das Wechseln der Zuleitung im Tanksystem findet seine Entsprechung im Übergitter in der Generation einer Dipolfront am Emitter.

Abbildung 12: Bifurkationsverhalten der im Inset dargestellten modifizierten Zeltabbildung. Die Parameter $ x_1$ bzw. $ L_h$ entsprechen der Frontposition bzw. der angelegten Spannung. Nach [28].
\includegraphics[width=0.5\textwidth]{ama03_fig4}

Für drei Tanks lässt sich die resultierende Dynamik durch eine eindimensionale, stückweise lineare iterierte Abbildung wie im Inset der Abb. 12 beschreiben. Diese modifizierte Zeltabbildung hat nur einen Bifurkationsparameter $ L_h/p_h$ . Das entsprechende Bifurkationsdiagramm in Abb. 12 stimmt in vielen Einzelheiten mit dem mikroskopisch berechneten Bifurkationsdiagramm in Abb. 11 überein. Insbesondere die Spinnennetzstruktur lässt sich so detailgenau reproduzieren. Wir konnten daher zeigen, dass sich die in Übergittern auftretende Frontdynamik auf sehr fundamentale Weise mit Hilfe von iterierten Abbildungen verstehen lässt [28]. Da hierbei die mikroskopischen Eigenschaften des Übergitters nicht in Erscheinung treten, ist anzunehmen, dass eine ähnliche Reduzierung auch für komplexen Frontsysteme mit globaler Kopplung in vielen anderen Disziplinen möglich ist und dass unser reduziertes Modell ein universelles Bifurkationsszenario beschreibt.

Technologisch sind oszillierende Übergitter insbesondere als GigaHertz-Generatoren interessant. In Zusammenarbeit mit der experimentellen Gruppe um E. Schomburg und K. Renk (Regensburg) analysierten wir die Hochfrequenzimpedanz von Übergittern, sowie das Verhalten von Übergittern in einem Resonator oder unter Einfluß einer äußeren Wechselspannung [20,21,38]. Die Frontdynamik läßt sich durch eine periodische Wechselspannung kontrollieren und zeigt typisches Verhalten wie Arnoldzungen, Teufelstreppe und Phasensysnchronisation. Außerdem entdeckten wir, dass eine geeignete äußere Beschaltung des Übergitters mit kapazitiven und induktiven Elementen die Schwingungsmode des Übergitters fundamental verändern kann, indem die Frontbewegung unterdrückt wird (quenched mode), was zu einer Eigenfrequenz führt, welche die nominale Frequenz des Übergitters um mehr als das Doppelte übersteigt. In diesem Kontext entwickelten wir zusammen mit der Regensburger Gruppe konkrete Vorschläge zur experimentellen Realisierung von elektronischen Höchstfrequenzoszillatoren [22].

Abbildung: Erfolgreiche Stabilisierung eines chaotischen Front-Musters (a) nach Einschalten einer zeitverzögerten Rückkopplung zwischen Spannung und Strom (b). Nach [29]
\includegraphics[width=0.5\textwidth]{sch03a_fig2}

Weiterhin ist es in der praktischen Anwendung des Übergitters als Hochfrequenzgenerator wichtig, ein stabiles periodisches Outputsignal zu erzeugen und eventuelle chaotische Oszillationen zu unterdrücken. Zu diesem Zweck untersuchten wir die chaotische Frontdynamik unter verschiedenen Rückkopplungsschemata. Wir konnten erstmals zeigen, dass hier ein einfach zu realisierendes Kontrollschema mit globaler zeitverzögerter Rückkopplung erfolgreich ist [29,30]. Wir ersetzten dazu in (12) $ U_0$ durch $ U_0
+U_c(t)$ , mit einer Kontrollspannung

$\displaystyle U_c(t)$ $\displaystyle =$ $\displaystyle - K\left(\overline{J}(t)-\overline{J}(t-\tau)\right) +
R U_c(t-\tau),$ (13)

mit
$\displaystyle \overline{J}(t)$ $\displaystyle =$ $\displaystyle \alpha A\int_0^t j(t')
e^{-\alpha (t-t')} \mathrm{d}t'$   , (14)

wobei $ A$ die Querschnittsfläche des Bauteils und $ \alpha$ eine Dämpfungskonstante sind. Wir zeigten, dass die Modifizierung des üblichen Pyragas-Verfahrens durch das Tiefpassfilter (14) auf Grund der diskreten Struktur des Übergitters notwendig ist. Eine erfolgreiche Kontrolle mit Hilfe dieses Verfahrens ist in Abb. 13 demonstriert.

AG Schöll
Institut für theoretische Physik, TU Berlin.